DER HEILIGE HEIDE
Der Feuerwehrmann Hans-Georg Heide stellte im Verlaufe des Jahres 2011 eingehende Nachforschung den heiligen Gral und seine Verbindung zum nördlichen, südbadischen Schwarzwald betreffend an. Weder der erste noch der einzige seines Faches beruft er sich zunächst auf die bekannten Gralsforscher Henry Lincoln, Michael Baigent und Richard Leigh Sie nämlich behaupten in choraler Co-Autorschaft: Der Gral ist gar kein Kelch, sondern ein Kerl! Der heilige Gral also in Wirklichkeit nicht die Wiedergeburt, sondern die Nachgeborenen Christi. „Auch Maria Magdalena hatte Blut geleckt, sie wollts ohne Kondom, und diesmal nicht so unbefleckt”, wie mir der hessische Satanist Herr Täubling bei unserem Stammtisch zu verstehen gab. Diese Nachfahren Christi also, so geht die Geschichte um die Jesus-Blutlinie weiter, heirateten in das fränkische Geschlecht der Merowinger ein. Ob aus Liebe oder Kalkül lässt sich auf Grund der historischen Distanz nur erahnen. Die Kirche war ihnen so oder so auf den Fersen, um die göttliche Stringenz wiederherzustellen. Hier gab es mehrere Motive: Zum einen war es nötig die heiligen Bettgeschichten Maria Magdalenas zu verkehren, zum Anderen stand die Legitimation des Papstes auf dem Spiel, denn wenn es Christus Jr. gäbe, wofür bräuchte man ihn dann noch, den Papst? Aber, Gott sei Dank, die geheime Organisation Prieuré de Sion schickt ihre Brüder aus, um die kleinen Christis zu behüten (und um die merowingische Königslinie zu erhalten, sogar noch 1930). Aber nicht nur die, auch das Geheimnis ihrer Existenz hütet sie, also die Bruderschaft. So sagt jedenfalls Pierre Plantard, den die drei Gralsforscher interviewten. Pierre Plantard, jener Franzose der das Dossier Secrects verfasste, das Eingeweihte bis heute in den Eingeweiden der Bibliotheque National de France finden können. Ein Dossier, dass alle Namen aller Großmeister der Prieuré de Sion auflistet. Pierre Plantard, jener Franzose der sich später in Tagebucheinträgen und Briefen selbst als den „wahren König Frankreichs“ bezeichnen sollte. Jener Franzose, der nach der Veröffentlichung seines Interviews mit den drei Gralsforschern angab, sich die ganze Geschichte unter Einfluss von LSD ausgedacht zu haben. Wir fassen also zusammen: Pierre Plantard gibt an, sich unter Einfluss eines starken Psychedelika eine Geheimgesellschaft erdacht gehabt zu haben: die Prieuré de Sion. Aber nicht nur diese, auch ihr Geheimnis offenbarte sich ihm angeblich in einer chemisch induzierten Vision, nämlich: Jesus lebt! Jedenfalls durch seine Kinder. Doch von dieser später begangenen Selbstverleugnung wussten Henry Lincoln, Michael Baigent und Richard Leigh, jene Gralsforscher, noch nichts, als sie ihr Buch daraus machten.
Aber was denkt Hans-Georg Heide, jener Feuerwehrmann aus Calw, den ich am Anfang bereits erwähnte, der den meisten aber wohl schon wieder aus dem Gedächtnis gefallen sein dürfte? Hans-Georg Heide denkt: Doppelter Schwindel! Also, die Geschichte um die Prieuré de Sion: Wahr! Die Geschichte mit dem LSD: Erlogen! Warum? Zum einen, weil Pierre Plantard unter Druck gesetzt wurde. Welche geheime Gesellschaft schätzt schon Personen, die öffentlich zugängliche Dokumente über sie verfassen? Zum anderen, weil Hans-Georg Heide ja eigentlich beweisen will, dass der heilige Gral in Calw war oder ist oder sein wird. Ein Anhaltspunkt für diese Gewissheit, findet sich in eben jenem Dossier, das von Pierre Plantard verfasst oder erdacht wurde und dort in den Eingeweiden der Bibliotheque National de France ruht.
Jenes Dossier, in dem jener Franzose alle Namen aller Großmeister jener Geheimorganisation festhielt, die sich der Pflege der kleinen Jesusbrut verschrieben hatte.
Der Anhaltspunkt, den Hans-Georg Heide in besagtem Dossier findet, lautet namentlich: Johann Valentin Andreä. Dieser war im 17. Jahrhundert Dekan von Calw. Aber nicht nur das, er war auch Großmeister der Prieuré de Sion. Also ganz öffentlich Dekan, ganz geheim Großmeister. Er ist allerdings nicht der einzige Johann in Calw, doch ist er Katholik. Und als der evangelische Johann kommt, Johann von Werth, macht sich Johann Valentin Andreä auf seine Katholikensocken und flieht vor Schwert und Feuersbrunst durch den Schwarzwald. Dabei, unter seinem Mantel, geheime Dokumente.
So geheim, dass sie in einer der vielen achteckigen Kapellen versteckt werden mussten.
So geheim, dass sie auf keinen Fall den Evangelen in die evangelischen Finger fallen durften, sondern in einer der achteckigen Kapellen versteckt werden mussten, deren Bauweise die Templer aus Jerusalem mitbrachten.
So geheim, dass sie, müsste auch sein katholischer Hals dran glauben, nicht Futter für die evangelischen Köpfe werden durften und deswegen in einer der achteckigen Kapellen versteckt werden mussten, die der Grabeskapelle Christis nachempfunden sind.
Doch für welches Geheimnis würde Johann Valentin Andreä seinen feinen Hals riskieren? Ihm lag doch so sehr an seinem bis eben noch aussichtsreichen Leben. Hier ging es nicht um Geheimnisse in diesem Sinne. Bei den Blättern, die Johann Valentin Andreä unter dem Mantel fest umschlossen hielt, handelte es sich um den literarischen Versuch des Dekans, der sich, in einsamen Stunden in Calw, diesem gottverlassenen Örtchen, die Geschichte um Christian Rosencreutz erdachte. Die (höchstwahrscheinlich) fiktive Natur dieses Dokuments hielt später Hans-Georg Heide jedoch nicht davon ab, ja, befeuert ihn sogar, hinter den beschriebenen Blättern, zwischen den Zeilen, in der Tinte dieser kurzzeitig in einer der achteckigen Kapellen versteckten Seiten eine Wahrheit zu wittern, die größer war als eine einfache Geschichte, größer war als Johann Valentin Andreä, größer wahr als eine der achteckigen Kapellen, größer war als der nördliche, süd-schwäbische Schwarzwald. Doch dieser Wille jenes Feuerwehrmanns aus Calw, zum Glauben an die Faktizität jener Dokumente, kam sehr viel später. Geflohen war der Dekan bereits 1634. Nach kurzem Versteck zwischen langen Tannen und grünem Moos, konnte er wieder zurück nach Calw kehren. Allerdings hielt es ihn nicht lange in der Provinz. Bald wurde er in die Landeshauptstadt Stuttgart beordert, wo er auch in seiner Kammer besagte Dokumente für die Nachwelt hinterließ. Doch genug davon, zurück zur Gegenwart:
Es ist ein herrlicher Sommertag, der Rackelhahn kräht durch Laub und Nadel, die Sonne blinzelt durch die Äste. Hans-Georg Heide, Feuerwehrmann und Radler aus Calw, kreuzt mit seinem Zweirad über die schattigen Wege des Hochlandes. In Gaurettersheim hält er eine kurze Rast, er war schon früh auf den Beinen und der Tag ist noch lang. Während er verträumt an seiner Cola Zero nippt und durch die leicht eingestaubten Wimpern blickt, fällt ihm eine kleine Kapelle ins Auge. Zuerst sieht sie im kanten-glatt-schleifenden, Kontraste auflösenden Licht der Mittagssonne rund aus. Doch sieht er bald genauer hin und erkennt: Acht Ecken. Unverhofft findet er sich an einer der Kapellen wieder, deren achteckige Bauweise die die Templer einst aus Jerusalem mitbrachten. Lag hier, unter dem Altar, der literarische Erguss des Johann Valentin Andreä? Oder dort auf dem Sims? Oder in jener Mauerspalte, aus der ihn eine kleine Eidechse anblinzelt? Jener literarische Erguss, der ja für ihn viel mehr ist! Eine heilige Schrift, ein Manifest, eine Brücke auf dem Weg zu Gott. Wer mag heute noch sagen, ob Johann Valentin Andreä wirklich hier an dieser achteckigen Kapelle war. Die Frage scheint nicht wichtig. Nur eins steht fest: Legt er seine Hand auf den warmen Stein der Außenmauer, kann er das Vibrieren der Geschichte spüren – Tout la memoire du monde.